Volkskrankheit
Depressionen
Depressionen,
Suizidversuch, Psychiatrische Klinik
Bislang war
die Krankheit "Depression" als öffentliches
Thema tabu. Doch seit Prominente wie Schlagerstar Michelle oder
Spitzen-Fußballer
Sebastian Deisler und der Schriftsteller Klaus-Peter Kolbatz sich zu
ihren
Depressionen, teilweise auch mit Burn-out-Syndrom
in den Medien
bekennen, ändert
sich das.
"Ich
weiß, dass ich fliegen kann ...": So heißt
der jüngste Titel der Sängerin, die sich Michelle
nennt. Der Schlagerstar ist
attraktiv, jung und prominent, ausgezeichnet mit den wichtigsten
Preisen der
Branche.
Aus
sozialschwachen Verhältnissen stieg sie auf zum Sternchen
am Schlagerhimmel.
Rätsel
Suizid
Auf dem
Höhepunkt ihrer Bilderbuchkarriere stürzt sie ab.
Erkrankt an Depressionen, versucht sich das Leben zu nehmen. Warum? -
Auch für
sie selbst ein Rätsel.
Michelle
sagt darüber: "Man fragt mich zum Beispiel
immer, ob ich nicht an meine Kinder gedacht habe, als ich diesen
Suizidversuch
gemacht habe. Sicherlich ist das eine berechtigte Frage. Aber trotzdem:
Wenn man
das nicht erlebt hat und selbst nicht weiß, wie tief man da
rein geht, dass man
nur noch grau sieht, dass man eigentlich nur noch das Schlechte sieht,
eigentlich nur noch müde ist und nichts mehr machen will und
die völlige
Antriebskraft fehlt, ist das schon schwer nachzuvollziehen."
Nach eigenen
Erklärungsversuche fühlte sich die Privatperson
Tanja Oberloher vom Rummel um die Kunstfigur Michelle
erdrückt. Der Preis:
Einsamkeit, gescheiterte Beziehungen, Scheidung, Schulden; dazu das
Gefühl, als
Mutter ihrer beider Töchter zu versagen.
"Irgendwann
hat's dann bum gemacht"
Michelle
weiter: "Man treibt ja einen immer weiter und
weiter, weiter, weiter. Ich habe irgendwann den Boden verloren und habe
den
Zeitpunkt einfach nicht gefunden. Und irgendwann hat's dann bum
gemacht. Ich
wollte einfach diese Person, die da draußen war, die ich aber
nicht bin, wegdrücken
von mir. Ich war diese Person nicht."
Tanja
Oberloher hat nach Klinikaufenthalt und Therapie begonnen, ihr Leben
neu zu
ordnen und betreibt einen Hundesalon in der Kölner Innenstadt.
Sie kann nicht
vergessen. Nur in letzter Minute konnten sie die Ärzte nach
ihrem
Selbstmordversuch retten. Sie sah keinen Ausweg mehr, die Angst wurde
übermächtig
- so wie bei vielen depressiven Menschen.
Jeden
kann sie treffen
Volkskrankheit
Depression: Quer durch alle sozialen Schichten,
Kulturen und wirtschaftlichen Verhältnisse kann sie jeden
treffen. Daran leiden
vier Millionen Menschen in Deutschland und die Zahl steigt, sagen
Experten. Sie
sprechen vom "Rätsel Depression". Wie
Schicksalsschläge, seelische
Reaktionen und Stoffwechselveränderungen im Hirn
zusammenhängen, sei noch zu
entschlüsseln.
Prof. Ulrich
Hegerl von der Psychiatrische Klinik der
Ludwig-Maximilians-Universität in München sagt dazu:
"Es gibt keine
andere Erkrankung, bei der der Leidensdruck so groß ist, dass
so viele Menschen
daran denken, nicht mehr leben zu wollen oder sich gar das Leben zu
nehmen und
so viele dann auch Schritte in diese Richtung unternehmen. Wir haben ja
in
Deutschland jedes Jahr 11.000 Suizide und etwa das zehnfache - 100.000,
wahrscheinlich ist noch zu niedrig geschätzt - an
Suizidversuchen. Und ein Großteil
der Suizide, 90 Prozent, passieren im Rahmen psychiatrischer
Erkrankungen, und
am häufigsten eben im Rahmen von depressiven Erkrankungen."
Top-Fußballer
Sebastian Deisler
Prominente
wie Michelle und der Top-Fußballer Sebastian
Deisler haben das Schweigen um die erkrankte Seele gebrochen. Sie
erleichtern es
so auch weniger berühmten Menschen, ihr Leid als Krankheit zu
erkennen.
Bisher
unveröffentlichte neueste Zahlen der Techniker
Krankenkasse belegen: obwohl die Krankentage insgesamt sinken, ist die
Zahl
psychischer Erkrankungen wie Depressionen sogar um 20 Prozent gestiegen.
Dr.
Christoph Straub vom Vorstand der Techniker Krankenkasse
erläutert das: "Man weiß mehr darüber; die
Hemmschwellen sinken, sich
behandeln zu lassen. Wir sprechen vom Deisler-Effekt, wenn ein
berühmter Fußballspieler
offen in den Medien mit seiner Erkrankung umgeht. Dann fällt
es auch vielen
normalen Bürgern leichter, sich deswegen behandeln zu lassen.
Das mag eine
Ursache sein. Im Übrigen ist Arbeitslosigkeit infolge der
gesamtwirtschaftlichen Situation eine wesentliche Ursache für
die Zunahme von
psychischen Störungen. Auch die Angst vor Arbeitslosigkeit
fördert sicher
psychische Störungen, und auch depressive Episoden."
Selbstwertgefühl
nicht mehr vorhanden"
Wolfgang
Blumtritt ist seit neun Jahren arbeitslos, hat sich
mit anderen Betroffenen zusammengetan. Der studierte
Sozialpädagoge schlägt
sich durch, verdient als Koch 1,50 Euro pro Stunde in einer
Tagesstätte für
Bedürftige. Er kennt den Kreislauf von Arbeitslosigkeit und
Depression:
"Das geht ganz schnell in Richtung Wertlosigkeit, oder auch dieses
Gefühl
von Selbstwert ist überhaupt nicht mehr vorhanden. Da ist dann
auch kein
Selbstbewusstsein mehr vorhanden und man kommt sich natürlich
als der letzte
Dreck vor, um das jetzt mal so drastisch zu sagen."
Wer in eine
solche Lage gerät, der hat es dann wesentlich
schwerer, jemals wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren, um
den Kreislauf
Depression - Arbeitslosigkeit zu durchbrechen.
Der
Wissenschaftler und Schriftsteller Klaus-Peter Kolbatz
hat sein
Schicksal in seinem Buch mit dem Titel "Burn-out-Syndrom"
- Infarkt der Seele - festgehalten und gibt wertvolle Tipps wie er aus
dem
Teufelskreis wieder heraus kam.
Kontrolle
geht verloren
Prof. Thomas
Kieselbach vom Institut für Psychologie der
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Gesundheit der Universität Bremen
über dieses Phänomen:
"Es ist nicht von ungefähr, dass gerade depressive
Erkrankungen relativ häufig
auftreten als Folge des Arbeitsplatzverlustes. Das lässt sich
damit erklären,
dass derjenige, der arbeitslos wird, oft das Gefühl hat, dass
er die Kontrolle
über seine eigenen Lebensbedingungen in einem ganz zentralen
Bereich verliert.
Kontrolle verlieren heißt: Nicht mehr durch eigenes Handeln,
durch eigene
Anstrengungen, das Ergebnis oder eine Veränderung dieser
Situation herbeiführen
zu können."
In einem
Ratgeber für Frauen verarbeitet die Journalistin
Andrea Hesse persönliche Erfahrungen mit der Krankheit. Auch
sie hatte einige
Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes das Gefühl, die
Kontrolle über ihr
Leben zu verlieren. Zur hormonellen Umstellung kam die Angst, den
veränderten
Anforderungen nicht zu genügen. Obwohl es weitere
Fälle von Depression in der
Familie gab, wurde sie lange falsch behandelt.
Medikamente
haben lange nicht geholfen
Hesse
über diese Zeit: "Fünf Jahre war ich unterwegs:
Ich habe verschiedene Medikamente ausprobiert, die nicht geholfen
haben. Niemand
hat mir aber auch gesagt: Mensch, es gibt vierzig verschiedene, du
musst weiter
versuchen, du darfst nicht aufgeben. Man kann heute von außen
noch nicht sehen,
welches Medikament zu welchem Stoffwechsel passt, da forscht die
Medizin."
Frauen
erkranken statistisch gesehen doppelt so oft an
Depressionen wie Männer. Oft werden Betroffene wie Andrea
Hesse von Arzt zu
Arzt gereicht, ihr Leiden um Jahre verlängert. Nur jede zweite
Erkrankung wird
eindeutig erkannt und nur jede fünfte richtig therapiert.
"Nicht
einfach zu erkennen"
Prof. Hegerl
über die Ursachen: "Ein Punkt ist, dass
Menschen mit einer Depression ja nicht zu einem Hausarzt gehen und
sagen: Ich
habe eine Depression. Vor allem nicht, wenn sie das erste Mal
erkranken. Sondern
sie merken, dass sich sehr viel in ihrem Leben verändert, dass
sie keine Kraft
mehr haben aufzustehen, dass sie nicht schlafen können. Sie
kommen oft mit
vielen körperlichen Beschwerden, auch mit Schmerzen, mit
Ohrgeräuschen zu
ihrem Arzt. Für den Hausarzt ist es dann nicht einfach zu
erkennen, dass
dahinter sich eine Depression verbirgt."
So erging es
auch der Sängerin Michelle. Wie so viele andere
Erkrankte wusste auch sie nicht, woran sie litt. Warnsignale
rechtzeitig
erkennen, Hilfe suchen, das lernte sie erst als es fast zu
spät war.
"Du musst da
stehen, strahlen"
Michelle zu
diesem Prozess: "Man sagt nicht: Ich glaube,
ich leide unter Depressionen. Sondern man merkt es selber auch gar
nicht. Ich
bin ein Mensch, der das auch nie nach außen getragen hat, so
dass es Freunde
mitkriegen könnten. Weil ich immer gesagt habe: Du musst da
stehen, strahlen,
das verlangt jeder von dir, das verlangen alle von dir. Deswegen mach'
das nur
mit dir selbst aus."
Das tun auch
die weitaus meisten - und geraten wie Michelle
immer tiefer in die so genannte "innere Hölle". Dabei sind 80
Prozent
aller Depressionen heute gut zu behandeln.
Depression
wird zur Volkskrankheit
Immer mehr
Arbeitsausfälle - Arbeitslose besonders betroffen
Psychische
Störungen und Depressionen verursachen immer mehr
Arbeitsausfälle. Das geht aus bisher
unveröffentlichten Zahlen der Techniker
Krankenkasse hervor, die dem ZDF-Magazin Frontal21 vorliegen. Demnach
stieg die
Zahl der Fehlzeiten durch eine psychische Störung zwischen
2000 und 2004 um 20
Prozent.
Im Jahr 2004
fehlte durchschnittlich jeder Versicherte
anderthalb Tage aufgrund psychischer Störungen. Andere
Krankheiten wie
Erkrankungen der Atemwege oder auch Verletzungen verursachten jeweils
weniger
Ausfälle.
Zugleich
gingen die krankheitsbedingten Fehlzeiten insgesamt
zurück. Im Jahr 2004 kamen bei den Mitgliedern der Techniker
Krankenkasse
insgesamt 28 Millionen Fehltage zusammen. Das entspricht einem
Krankenstand von
3,1 Prozent. Im Jahr 2002 hatte der Wert noch bei 3,3 Prozent gelegen.
Im
Durchschnitt fehlten im Jahr 2004 Versicherte 11,2 Tage.
Den
größten Anteil unter den diagnostizierten
psychischen Störungen
machen Depressionen aus. Insgesamt waren nach Angaben der Techniker
Krankenkasse
im Jahr 2004 Depressionen für 5,5 Prozent aller Fehltage
verantwortlich. Das
entspricht 61 Fehltagen je 100 Versicherten.
Arbeitslose
besonders betroffen
Arbeitslose
waren den Angaben zufolge erheblich länger wegen
Depressionen krankgeschrieben als Berufstätige. Die gemeldeten
Erkrankungszeiten waren im Jahr 2004 unter Arbeitslosen drei Mal
höher als bei
Berufstätigen.
Frauen
häufig depressiv
Vom Jahr
2000 bis 2004 stieg die Zahl der Tage, an denen
Arbeitslose wegen Depressionen krankgeschrieben wurden, um 33 Prozent.
Durchschnittlich fielen Arbeitslose im Jahr 2000 je 100 Versicherten an
113
Tagen wegen Depressionen aus. Im Jahr 2004 waren es 151 Tage. Bei
Berufstätigen
stieg die Zahl um elf Prozent von 46 auf 51 Fehltage je 100 Versicherte.
Frauen
fehlen der Untersuchung zufolge besonders häufig
aufgrund von Depressionen. Die entsprechenden Fehlzeiten der weiblichen
Versicherten waren etwa doppelt so hoch wie die der Männer. Im
Jahr 2004
entfielen 82,5 Fehltage je 100 Versicherte auf Frauen. Bei den
Männern waren es
45,7 Tage.
Männer
holen auf
Allerdings
scheinen die Männer aufzuholen, was die
Depressions-Diagnose angeht. Bei ihnen war zuletzt ein relativ starker
Anstieg
zu verzeichnen: Zwischen 2003 und 2004 stieg die Zahl um fast sechs
Fehltage je
100 Erwerbspersonen. Bei den Frauen waren es dagegen nur 1,2 Tage mehr.
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